Erinnerung und Widerstand:

Eine junge Stimme zum Gedenken an die Reichspogromnacht und den aktuellen Antisemitismus

Erinnerung und Widerstand:

Eine junge Stimme zum Gedenken an die Reichspogromnacht und den aktuellen Antisemitismus

Am Sonntag, den 10. November 2024, fand in der Westend-Synagoge in Frankfurt eine Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht statt. Neben zahlreichen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und politischen Vertretern, darunter Vorstandsmitglied Benjamin Graumann, Oberbürgermeister Mike Josef, Antisemitismusbeauftragter Uwe Becker und Bundesinnenministerin Nancy Faeser, sprach auch unsere Oberstufenschülerin Noa W.

Kvod Harabbanim,
sehr geehrter Vorstand der jüdischen Gemeinde, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Josef, sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser, sehr geehrter Herr Staatssekretär Becker,
liebe Gemeindemitglieder und Gäste,

es ist mir eine Ehre, mit Ihnen heute all der Opfer der Reichspogromnacht und ihrer Folgen zu gedenken und diese dadurch noch fast 100 Jahre später nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich heiße Noa, ich bin 16 Jahre alt und besuche die jüdische Schule in Frankfurt. Ich spreche aus der Perspektive einer jungen Jüdin über den 9. November und möchte einige Parallelen zum 7. Oktober ziehen, welche die Bedeutung des heutigen Gedenktages betonen.

Judenpogrome und -verfolgungen im Mittelalter, Pogrome während der Pest, die Spanische Inquisition, der 9. November, die Shoah – alles Ereignisse, die durch dasselbe gekennzeichnet werden, einen unerklärlichen Judenhass.

Die Reichspogromnacht war besonders durch diese grundlose Judenfeindlichkeit geprägt. Sie stellt einen Höhepunkt des größten Verbrechens der Neuzeit dar. Und diese Nacht war nur ein Vorspiel des darauffolgenden systematischen Mordes an der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa. In dieser Nacht konnte jeder Deutsche, mit der Erlaubnis des Staates, jedem Juden und jeder Jüdin antun, was er wollte. Niemand durfte helfen.

Die Verbrechen dieser Nacht reichten von Raub, Demütigung und Prügel zu Mord auf schlimmste Weisen. In dieser Nacht war es den Nazis vollkommen egal, wessen jüdisches Leben sie zerstörten, beendeten. Ob orthodox, liberal oder konservativ, ashkenazi oder sefardi, jung oder alt, Mann oder Frau, ein Jude war und blieb ein Jude. Aber erst recht machte es deshalb auch für uns keinen Unterschied.

Die Nazis hatten uns gezeigt, dass ein Jude ein Jude war. Was sie nicht wussten, war, dass genau das unser Überleben und damit unseren Sieg über deren Vorhaben bedeutete. In dieser Nacht hielten unsere Vorfahren zusammen und zeigten uns, ihren Nachkommen, dass genau dieser Zusammenhalt die Grundlage unserer Existenz als jüdisches Volk ist. Wir alle sind durch das Gleiche vereint, und zwar den Kampf gegen unsere gemeinsamen Feinde. Gegen die Menschen, die aufgrund antisemitischer Vorurteile leider keinen Platz für uns in der Welt finden.
Die Überlebenden dieser Nacht haben unerschütterlichen Mut und außergewöhnliche Stärke gezeigt. Es heißt doch: Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern das Überwinden, der Kampf gegen seine Angst. In der Reichspogromnacht haben Jüdinnen und Juden trotz der Angst an ihrem Glauben festgehalten. Sie sind die Mutigsten.

Auch Gerhard Löwenthal war einer von diesen Menschen. Mit nur 16 Jahren erlebte er die Reichspogromnacht in Berlin und teilte als Shoah-Überlebender seine Erfahrungen vom 9. November 1938.

Er beschreibt die Nazis folgendermaßen:

„Das waren Leute, ja, man hätte sagen können es waren Betrunkene. Aber sie waren nicht vom Alkohol betrunken, sondern offenbar von ihrer Gesinnung. Ich würde lieber sagen Antigesinnung. Es war unmenschlich, was sie taten.”

Nach dem 9. November in Frankfurt und der daraus resultierenden Shoah müsste man doch meinen, dass es hier nie wieder zu Antisemitismus kommen sollte. Dass die Stadt, das Land daraus gelernt haben. Und doch habe ich heute als junge Jüdin Angst, meine Solidaritätskette in der Öffentlichkeit zu tragen. Trotzdem müssen meine Eltern mich darauf hinweisen, aufzupassen, wo ich diese Kette trage. Trotzdem muss ich mich jedes Mal, wenn ich mein Zuhause oder die Schule verlasse, erinnern die Kette zu verstecken und werde jedes Mal von Angst gepackt, wenn jemand mich als Jüdin erkennt. Sie können sich meine Freude kaum vorstellen, zu sehen, wenn Menschen den Mut haben auf den Straßen zu zeigen, dass sie jüdisch sind.

Menschen glauben nicht daran, dass solch schreckliche Ereignisse von heute auf morgen passieren können. Und doch passiert es immer wieder, am 9. November aber eben auch am 7. Oktober. Daran zu glauben, lässt sich nämlich nicht mit der Existenz eines Menschen vereinbaren. Weil wir sonst jeden Tag von Sorgen geplagt werden würden. Um unsere Kinder, Eltern, Freunde, Verwandte, uns selbst. Und doch, so sehen wir in jeder Generation, hat das jüdische Volk leider eine legitime Berechtigung dazu, sich diese Sorgen zu machen. Aber wir geben nicht auf. Wir sind Optimisten, Menschen voll Hoffnung, Kämpfer.
Wir haben aus dem, was man uns damals angetan hat, gelernt, sodass wir uns heute verteidigen, wie wir es damals leider nicht konnten.

Damals hat uns Hitler vorgeworfen, Schuld an beiden Weltkriegen zu tragen. Heute werden wir beschuldigt, die gleichen Verbrechen zu begehen, die damals an uns begangen wurden. Es ist nicht nur eine bodenlose Frechheit, sondern ohne jeglichen Menschenverstand. Das Judentum baut auf dem Frieden zwischen Menschen auf. Wir beten für diesen Frieden, für den wir schon immer, aber insbesondere seit dem 7. Oktober erneut, kämpfen müssen.
Doch so viele Staatsoberhäupter, zwischenstaatliche Zusammenschlüsse, die angesehensten Universitäten der Welt, haben anscheinend nichts aus der Geschichte gelernt. Trotzdem vergleichen die „Experten und Eliten unserer Gesellschaft“ den Kampf des jüdischen Volkes, in Frieden zu leben, mit der Shoah, mit der Reichspogromnacht. Das waren alles Menschen, von denen wir dachten, dass sie ihren Verstand nutzen, aber auch, dass sie uns unterstützen würden. Stattdessen wirkt es, als hätte sich die ganze Welt gegen uns verschworen. Kollegen, Nachbarn, Freunde – so viele haben sich nach dem 7. Oktober plötzlich gegen einen gerichtet. Plötzlich werden wir von überall her gehasst.

Es scheint, als wäre dieser Hass nie weg gewesen. Als wäre er nur unterdrückt worden. Als würde man nur auf einen Zeitpunkt warten, ihn wieder hervorzuholen.

Ein Jahr nach dem Pogrom in Israel ist auch hier die Stimmung noch trauriger und bedrückter, aber auch von Enttäuschung geprägt. Wir alle sind mit dem “nie wieder” groß geworden, waren fest davon überzeugt. Die Enttäuschung ist, dass wir alle, im 21. Jahrhundert, Zeitzeugen von „nie wieder ist jetzt” geworden sind. Für mich ist der 9. November 2024 trotzdem kein Tag, um gebrochen oder verbittert zu sein.

Ein Jahr nach dem Pogrom in Israel sind wir eine starke, selbstbewusste Gemeinde. Das allein ist schon ein Sieg. Wenn wir zusammenhalten und eine gesunde Gemeinschaft bilden, dann kann uns ein 9. November oder ein 7. Oktober nicht brechen. Deswegen geht es heute auch darum, den Stolz, den alle Jüdinnen und Juden damals nicht tragen konnten, nicht tragen durften, für sie zu tragen, für sie zu leben.

Im Hebräischen gibt es kein Wort für Geschichte. Das hebräische Wort, das Geschichte am nächsten kommt, ist Toldot, Vermächtnis. Es ist nicht etwas, das war, mit dem wir nichts zu tun haben. Die Opfer der Reichspogromnacht, heute die Geiseln, all die gefallenen Soldaten, zerstörten Familien. Sie werden nicht Geschichte sein. Sie sind ein Vermächtnis, unser Vermächtnis, welches das jüdische Volk stärker vereint hat und unsere Herzen neu formt. Es hat uns gezeigt, wie sehr wir uns umeinander kümmern müssen und wie wertvoll das Leben ist, das so plötzlich vorbei sein kann.

Wir alle durchleben momentan Geschichte. Aber werden wir passiv und überwältigt sein oder sie zu einem Vermächtnis machen sodass all die Ermordeten nie nur ein Stück Geschichte werden? Die jüdische Familie ist so widerstandsfähig und lebt nicht in der Vergangenheit. Auch während Geschichte passiert, denken wir daran, wie wir sie in eine hellere, bessere Zukunft verwandeln können. Neben unserer Pflicht, selbst zu handeln, wissen wir aber auch, dass H´shem, unser G´tt, sich um uns kümmert und unser Überleben, unsere Zukunft sichert.

Wir sind heute hier, um nicht nur zu erinnern, sondern auch um Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Die Reichspogromnacht war ein Wendepunkt, der uns lehrt, was passieren kann, wenn Hass und Vorurteile ungehindert gedeihen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat schon vor fast 40 Jahren folgendes gemahnt:

„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere Menschen. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“

Der 7. Oktober ist das größte Verbrechen an Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Es ist für Deutschland womöglich die einzige Chance zu zeigen, dass es aus seinen eigenen Fehlern gelernt hat, indem es Israel unterstützt und ungeteilte Solidarität zeigt. Mehr noch: Gerade aufgrund des 9. Novembers ist es nun Deutschlands Pflicht, an Israels Seite zu stehen.

Am Israel Chai!

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.