Jom haSchoah

„Jeder Mensch hat einen Namen”

Jom haSchoah

„Jeder Mensch hat einen Namen”

Am Mittwoch, dem 04.05.2016, fand die Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer der Schoah und die Ghetto-Widerstandskämpfer anlässlich des Jom haSchoah im Festsaal der Jüdischen Gemeinde Frankfurt statt. Diese wurde unter dem Leitgedanken „Jeder Mensch hat einen Namen – lechol isch jesch schem“ von der 8. Klasse der Lichtigfeld-Schule gestaltet. Die Schülerinnen und Schüler hatten hierfür im Vorfeld Biografien von Familienangehörigen oder Bekannten recherchiert und deren Schicksale zu Papier gebracht. Sechs dieser Schicksale, die von Leid, Verlust, Flucht, Schmerz, aber auch von Überleben und Neuanfang gekennzeichnet waren, wurden vor der restlichen Sekundarstufe, Eltern, Lehrkräften und Gemeindemitgliedern vorgetragen. Unterstützt wurde dies durch Bildprojektionen, Gebet und Gesang. Im Anschluss an jede der Geschichten wurde in Gedenken an diese Person und die Opfer der Schoah je eine Kerze angezündet, sodass am Ende der Veranstaltung sechs Kerzen symbolisch für 6 Millionen Opfer auf dem Leuchter brannten.

Fotos: Rafael Herlich, Frankfurt

 

Familienschicksale

Jonas Eichel

Mein Urgroßvater, Jonas Eichel, wurde 1912 in Lobov, Ukraine, als Sohn einer streng religiösen Rabbinerfamilie geboren. Er hatte sechs Geschwister. Vor dem Krieg ging er zur Schule, schloss sich der Jeschiwa an, wurde Rabbiner und lebte ein normales Leben.

Jonas wurde dreimal im Zweiten Weltkrieg vor dem Tod gerettet.

Er wurde in ein Konzentrationslager verschleppt. Dort verkaufte er Pferde, stellte Hufeisen her und brachte den Nazisoldaten Essen. Jedes Mal als er auf dem Weg war, den Nazisoldaten ihr Essen zu bringen, versteckte er ein Teil davon im Wald, damit er, wenn er zur Massenverbrennung verschleppt werden würde, etwas zum Essen hätte.

Eines Tages sollten er und zahlreiche andere Juden mit Zügen zur Massenverbrennung gefahren werden. Doch bevor sie losfuhren, kam ein Nazisoldat, zeigte auf Jonas und sagte: „Ich brauche diesen Mann, er ist gut!“. So überlebte er die Massenverbrennung und wurde zum ersten Mal gerettet.

Die Zeit verging und nach ein paar Monaten schwerster Arbeit hatten die Nazis beschlossen, dass Jonas und weitere junge Männer schon zu schwach und unbrauchbar seien. Sie mussten einen großen Graben ausheben, vor dem sie sich dann in einer langen Reihe aufstellen sollten. Die Männer wurden nacheinander erschossen und fielen in diesen Graben, aber Jonas und zehn seiner Freunde hatten einen Plan, wie sie diesem grausamen Tod entfliehen könnten. Sie fielen lebend in diesen Graben und stellten sich tot. Daraufhin wurden sie mit Erde überdeckt und blieben dort ein paar Tage liegen. Nach etwa drei Tagen tauchten drei Männer, inklusive Jonas, auf, doch die restlichen der zehn Männer starben. Auf diese Weise wurde er das zweite Mal vor dem Tod bewahrt.

Die Nazis jedoch erwischten die drei Männer und brachten sie wieder zurück in das Konzentrationslager. Die Zeit verging und Jonas wurde mit tausenden weiteren Männern auf einen Massenlastwagen deportiert. Zum richtigen Zeitpunkt sprangen Jonas und seine Freunde von dem Wagen und eilten in den Wald hinein. Dort lebten sie ein Jahr und zwei Monate mit den Partisanen bis die Rote Russische Armee in den Krieg gegen die Nazis zog. So überlebte er das dritte Mal.

Nachdem die Rote Russische Armee diesen Krieg gewann, ging Jonas wieder in seine Heimatstadt, die jetzt Skola hieß, zurück. Dort suchte er nach seiner Frau und seinen beiden Kindern, die er aber nicht fand, da sie in den Konzentrationslagern umgekommen waren. Auch seine weitverbreitete, große Rabbinerfamilie fand er nicht. Niemand aus seiner Familie überlebte diesen Krieg. Daraufhin gab er seinen Job als Rabbiner und seinen Glauben an G’tt auf, da G’tt seine Familie nicht vor dem Tod bewahrt hatte.

Durch das große Chaos in Skola traf er meine Uroma Klara (sichrona liwracha), diese war damals mit ihrer Schwester nach Kasachstan geflohen. Für diesen über tausend Kilometer weiten Weg brauchten die beiden ein Jahr lang. Als der Krieg dann endete, kehrten Klara, ihre Schwester Sahra und ihre Tochter Ilana zurück nach Skola. Klaras Ehemann und ihre ganze Familie starben in den Konzentrationslagern. Jonas und Klara heirateten und Jonas adoptierte Ilana, die zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt war. Zusammen zogen sie dann nach Weibschoch in Polen, wo auch meine Oma Tova (sichrone liwaracha) geboren wurde. Meine Oma bekam auch einen kleinen Bruder, Arie.

Die Polen hassten die Juden, doch der damalige Präsident Gomolka erlaubte den Juden 1956 die Auswanderung aus Polen. Die meisten Juden verließen Polen 1956/57, um u. a. nach Kanada, Amerika oder Israel auszuwandern.

Als Ilana eines Tages in der Schule als „dreckige Jüdin“ beschimpft wurde, beschlossen Jonas und Klara dann auch, dass sie nach Israel ziehen, da es in Polen viel zu viel Antisemitismus gab. In Israel passten sie dann ihr Namen an.

Mein Urgroßvater wünscht sich, dass seine Familie ein Leben in Frieden nach jüdischem Glauben und Tradition führen kann.

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Felix Endzweig

Nazideutschland überrannte Polen am 15. September 1939 und besetzte nach ungefähr zwölf Tagen die gesamte Gegend Galizien, in der mein Großvater aufgewachsen war. Im Frühjahr 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung aus der Heimatstadt meines Großvaters nach Jawoudu vertrieben.

Nach kurzer Zeit begannen die Nazis den Befehl der SS und der Wehrmacht umzusetzen. Sie steckten zahlreiche Juden in Güterwagons, darunter Kinder, Frauen und sogar Neugeborene. Die Nazis behaupteten, dass die Menschen zum Arbeiten weggeschickt werden würden, doch stattdessen wurden sie nach Belzec, einem Arbeitslager, das zum Vernichtungslager wurde, deportiert. Ein Großteil wurde direkt nach der Ankunft in eine Gaskammer geschickt, während die Übrigen, darunter Felix‘ Vater und seine Schwester, mit Maschinengewehren erschossen wurden. Die wenigen Überlebenden wurden dann nackt in eine riesige Grube geworfen und mit Leichenbergen überdeckt, sodass sie erstickten.

Mein Großvater entkam diesen Hinrichtungen. Er und seine Familie flohen nach diesen grausamen Ereignissen nach Lemberg, wo es so gut wie keine Arbeit für Juden gab. Er jedoch fand bei einem ukrainischen Bauern Arbeit, bei dem er für wenig Essen von 02.30 Uhr morgens bis spät abends hart arbeiten musste.

Der Kommandant der SS befahl allen Juden des Ortes kurz darauf, in die ihnen zugewiesenen Viertel zu ziehen. Dort herrschten schreckliche hygienische Verhältnisse.

Schließlich wurde mein Großvater ebenfalls in ein Konzentrationslager, an dessen Namen er sich leider nicht erinnern kann, geschickt. Die dort vorherrschenden Verhältnisse waren schrecklich. Jeden Tag hatten die Menschen den Tod vor Augen und kaum Aussicht auf Überleben. Außerdem hungerten und froren sie Tag für Tag. Mein Opa besaß lediglich ein paar Hosen und kaputte Stiefel.

Die Überlebenden des Konzentrationslagers, darunter auch er, wurden durch die russische Armee befreit. Daraufhin kehrte mein Großvater per Anhalter auf einem russischen Militärlastwagen in seine Heimat nach Galizien zurück.

Mit unglaublicher Freude konnte er dort als freier, gleichberechtigter Mensch auf der Straße spazieren gehen, ohne Angst haben zu müssen, erschossen oder in ein Arbeitslager geschickt zu werden.

Am darauf folgenden Tag suchte er den sowjetischen Kommandanten des Ortes auf, um ihn um Essen zu bitten. Der Kommandant konnte ihm kein Essen geben und fragte ihn, einen sechzehnjährigen Jungen, ob er sich zum freiwilligen Militäreinsatz melden wolle, um gegen die faschistischen Horden zu kämpfen. Dies lehnte er natürlich ab.

Die nächsten Wochen verbrachte er notgedrungen in einer Gastwirtschaft, in der er für den Mindestlohn arbeitete. Während dieser Zeit wollte ein alter Bekannter meinem Großvater einer seiner Kisten Obst verkaufen, die er sich aber nicht leisten konnte. Weil er trotzdem Essen brauchte, kaufte er Ware auf dem Marktplatz und verkaufte diese wiederum mit Profit. Dadurch verdiente er fünfundsechzig Zloty, welche das Ergebnis seiner ersten geschäftlichen Tätigkeit waren. Bevor die ersten polnischen Judenpogrome stattfanden verbrachte er einige Monate von früh bis spät auf dem Marktplatz, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Wegen der Pogrome flohen viele Juden, darunter auch er, in die drei westlichen Besatzungszonen der Alliierten. Von dort aus reiste er nach München und schließlich nach Regensburg, wo er sich beim Einwohnermeldeamt meldete und in einer Wohnung lebte. Er verdiente seinen Lebensunterhalt wieder durchs Handeln, bis sich die Verhältnisse wieder normalisierten und man nicht mehr handelte, sondern seine Lebensmittel in Geschäften kaufte. Mit zwei Partnern gründete er daraufhin ein Bauholzgeschäft, wie sein Großvater. Doch als seine Partner emigrierten, löste er das Geschäft auf und begann in München als Obsthändler zu arbeiten. Ihm fehlte jedoch ein Lastwagen zum Transport der Ware. Als Entschädigung für seine Zwangsarbeit im Konzentrationslager erhielt er viertausend Deutsche Reichsmark, mit denen er sich dann einen Lastwagen kaufte und vom Obst- zum Schrottgeschäft wechselte. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete er jahrelang im Metall- und Schrottgeschäft. Sein Privatleben hatte sich auch sehr verbessert, als er 1960 in München heiratete und mit seiner Frau zwei Söhne und eine Tochter bekam. Da seine Firma viele Geschäfte in Frankfurt abwickelte, zog er mit seiner Familie dorthin, wo er bis heute lebt.

Er ist glücklicher Vater und Großvater einer jüdischen Familie und wünscht sich, dass seine Kinder und Enkelkinder ein Leben nach jüdischer Tradition unbehelligt führen können.

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Alexandr Feldmann

Mein Opa Alexandr Feldmann wurde am 15. Mai 1933 in einem Städtchen namens Korosten, im Gitomir-Gebiet in der Ukraine, der ehemaligen Sowjet-Union, geboren. Sein Vater David Feldmann war Ingenieur und seine Mutter Bella Sindel Hausfrau. Er hatte noch eine große Schwester namens Sonja.

Korosten war damals ein kleines Städtchen mit 60 000 Einwohnern, wovon ein Viertel Juden waren. Dazu gehörte die Familie meines Großvaters. Er genoss eine liebevolle Kindheit, da seine Mutter Hausfrau war und daher Zeit hatte, auch auf seine Cousins aufzupassen. Korosten liegt nur 150 km von Kiew entfernt an der Grenze der Sowjet-Union an Polen angrenzend.

Am 23. August 1939 wurde der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt unterschrieben, der dazu führte, dass das Kleinstädtchen anfing zu wachsen. Daraufhin wurde Korosten ein Eisenbahnverkehrsknoten, der den Westen mit dem Osten verband. Es wurde zu einem strategisch wichtigen Punkt.

Wie alle sowjetischen Kinder, wurde mein Opa mit sieben Jahren eingeschult. Nach dem ersten Schuljahr erhoffte er sich schöne Ferien. Aber es kam alles anders. In der Nacht zum 21. Juni 1941 zwischen vier und fünf Uhr wurde er von einem schrecklichen, für ihn unbekannten, Lärm geweckt. Er lief mit seiner ganzen Familie und den Nachbarn aus dem Haus, um zu sehen, was los war.

Über Eisenbahnbrücke und Bahnhof flogen Flugzeuge, aus denen Kisten auf den Bahnhof fielen. Es war schrecklich laut und überall konnte man Feuer sehen. Niemand wusste, was getan werden sollte.

Seine Mutter brachte ihn mit seinen Cousins und seiner Schwester in den Speisekeller. Sie saßen dort bis alles verstummte. Als sie rauskamen, waren sein Vater und sein Onkel da. Sie sagten, dass ein Krieg begonnen habe. Niemand glaubte ihnen, bis man über das Radio eine offizielle Aussage gehört hatte. Dann wurde allen klar, dass das normale Alltagsleben zu Ende war.

Nach dem Evakuierungsbefehl, hatte man in erster Linie die jüdische Bevölkerung evakuiert, aber nicht alle konnten auf einmal fliehen.

Mein Opa wurde Mitte Juni in einen Zug in Richtung Ural gesetzt. Damit begann eine dreimonatige Fahrt, welche mit ständigen Luftangriffen von Nazi-Deutschland durch teilweise zerstörte Städte und Dörfer bis zum Rande der südlichen Ausläufer des Uralgebirges nach Saraktasch im Orenburg-Gebiet führte.

Ende September 1941 begann für meinen Opa ein neues Leben. Drei Kinder und vier Erwachsene waren in einem Zimmer untergebracht worden. Das Zimmer gehörte einer Familie, die liebend gern ihr Zimmer zur Verfügung stellte. Zum Glück waren mein Opa und seine Familie in Sicherheit, denn in der Zeit von August 1941 bis August 1942 wurden in Korosten 6 000 Juden von Nazi-Truppen erschossen.

Mein Opa und seine Familie blieben am Leben. Dennoch war das Leben nicht immer einfach. Es mangelte sehr oft an Essen und die Kinder mussten nach der Schule bis zu vier Stunden pro Tag arbeiten gehen.

Mein Opa arbeitete mit seinem Vater in einem Pferdezuchtbetrieb. Im März 1942 musste dieser Betrieb Pferde für die sowjetische Armee nach Moskau liefern. Dafür war sein Vater verantwortlich, der den Zug begleitete und dort als Soldat blieb. Es gab keine Briefe von ihm, nur eine Benachrichtigung, dass er im Krieg gefallen war. So wurde mein Opa im Alter von 9 Jahren für seine Familie verantwortlich. Er unterstützte seine Mutter und Schwester so gut er konnte.

Im Juni 1945 konnte die Familie wieder zurück nach Korosten. Als sie dort ankam, konnte sie nur den Standort des ehemaligen Hauses erkennen. Alles war zerstört worden. So musste mein Opa erneut ein neues Leben anfangen.

Mit der Zeit bauten sie ein neues Haus. 1948 beendete mein Opa die Schule und begann eine Ausbildung als Schreiner, die er 1953 beendete. Er wurde als Schichtleiter an der Schreinerfabrik eingestellt.

1954 lernte er meine Oma, Claudia Gejchmann, kennen, die dort als Buchhalterin arbeitete. Am 5. Dezember 1954 heiratete er sie. Ein Jahr später kam meine Tante zur Welt und 1963 meine Mutter.

Mein Großvater erweiterte stets gerne sein Wissen und seinen Horizont, so machte er im Alter von 42 Jahren seinen Universitätsabschluss und arbeitete bis zu seiner Rente als Lehrer.

Im Jahre 1999 wanderte er mit seiner ganzen Familie nach Deutschland aus. Hier starb er auch im Februar 2013 mit 80 Jahren.

Er war, ist und wird immer ein Vorbild für mich bleiben.

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Schihe Katz

Mein Opa, Schihe Katz, wurde am zweiten Channukalicht des Jahres 1927 geboren. Es war der 20. Dezember.

Mein Opa hatte einen älteren Bruder Mechel und eine ältere Schwester Chaja. Sein Bruder befand sich 1939 im russischen Militär.

Sie lebten alle in der kleinen Stadt Solotwino in Russland und auch entfernte Verwandte befanden sich in der Nähe. Man traf sich deshalb sehr oft, vor allem an den Feiertagen im Haus meines Großvaters und ging gemeinsam zur Schil. In Solotwino lebten sehr viele Juden, darunter auch sehr fromme.

Mein Opa musste schon früh anfangen zu arbeiten, um seinem Vater Chaim beim Geldverdienen zu helfen. So lud er schon im Alter von zwölf Jahren schwere Lasten von Feldkarren und verrichtete schwere Feldarbeit. Vorher aber konnte er noch für vier Jahre den Cheder besuchen.

Zu dieser Zeit wechselte die Stadt sehr oft ihre Staatszugehörigkeit. Erst war sie tschechisch, dann marschierten die Ungarn ein. Durch diesen Wechsel änderte sich auch der Antisemitismus. Unter den Ungarn war der Antisemitismus am größten. Die jüdische Bevölkerung traute sich bald schon nicht mehr auf die Straße.

Mein Opa hatte mir einige Geschichten erzählt. Beispielsweise erzählte er mir von der Unterpolizei, die man gut an ihren Mützen mit den Federn erkennen konnte. Diese waren für ihre Grausamkeit bekannt. Einmal musste er zum Beispiel mitansehen, wie die Unterpolizei einen Juden mit Bart auf der Straße anhielt und ihn grundlos verprügelte. Dabei schrien sie: „Du isst ungarisches Brot, dann sprich auch ungarisch!“ Danach schnitten sie ihm den Bart ab.

Die Familie meines Großvaters lebte in einem schönen Haus. Es gab fünf Zimmer, die auf einem Stockwerk verteilt waren. Die Familie hatte Pferde, Gänse und andere Tiere. Doch lange durfte sie diese nicht behalten.

Bald schon durften Juden keine Pferde mehr besitzen. Jeder, der ein Pferd haben wollte, konnte sich nun eins bei den Juden holen. Auch die Gänse, die die Familie zum Mästen besaß, wurden von Nachbarn gestohlen, was einen großen Verlust darstellte. Zur Polizei konnten sie jedoch nicht gehen, da sie Juden waren, denn Juden hatten nicht das gleiche Recht wie Nicht-Juden und durften sich über nichts beschweren.

Bald kam der Befehl, ein Ghetto zu errichten. Eine Linie wurde durch das Städtchen gezogen. Auf der einen Seite sollten Juden leben, auf der anderen, größeren Seite die Christen. Diejenigen, die auf der falschen Seite wohnten, hatten umzuziehen. Mein Opa und seine Familie lebten auf der jüdischen Seite und konnten so in ihrem Haus bleiben. Bis zuletzt blieben sie dort wohnen, auch wenn sie es während der Zeit im Ghetto mit anderen Menschen teilen mussten. Aus vielen verschiedenen Dörfern wurden die Juden eingesammelt und in das Ghetto gedrängt. Im Haus meines Opas lebten zwischen acht und zehn Menschen in einem Zimmer. Durch das eigene Haus konnte die Familie noch zusammen bleiben. Sie umfasste 1939 seine Eltern Chaim und Gitl, die ältere Schwester Chaja, die Schwägerin mit einer kleinen Tochter, zwei jüngere Geschwister und ihn selbst. Seiner Schwester Chaja war als einzige die Ausreise nach Palästina geglückt, so war sie dem Konzentrationslager entkommen.

Nachdem die Familie einige Zeit im Ghetto gelebt hatte, sollte sie zum Arbeiten an einen anderen Ort gebracht werden. Sie durfte Gepäck mitnehmen, doch Koffer gab es nicht, sodass man Decken zusammenknotete und darin Töpfe und Haushaltsgeräte verstaute. Auch die Kinder bekamen etwas zu tragen – und wenn es nur ein Eimer Wasser war. Es war Mai, Schawuot, das wusste mein Opa noch, als sie sich alle auf einem Platz versammeln mussten. Nach einer Nacht, die sie in Lagerhallen eines Flughafens verbracht hatten, wurden sie an einem Bahnhof in Viehwagons verladen. Das Gepäck sollten sie stehen lassen, es würde ihnen nachgeschickt werden. Was jedoch nie passierte. Eine tagelange, nicht auszuhaltende Fahrt mit dem Zug begann. Der Zug ging nach Auschwitz.

Beim Aussteigen wurden Schihe und sein Vater von den Frauen und Kindern getrennt. Zwar war auch er zu diesem Zeitpunkt mit zwölf Jahren noch ein Kind, doch packte ihn sein Vater am Arm und zog ihn mit sich auf die Seite der Männer. Er ließ den Arm erst los, als sie an Mengele, dem berüchtigten Arzt, der grausame Versuche an lebenden Menschen vollzog, vorbei waren. Von Auschwitz und den anderen Lagern, in denen mein Opa war, erzählte er mir von grauenvollen Ereignissen. Doch ich werde hier nur ein kurzes Gespräch erwähnen:

Kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz trafen sie einen alten Bekannten aus ihrem Städtchen wieder, der schon früher deportiert worden war. Der Vater fragte ihn, was mit ihm geschehen sei und der Mann gab zur Antwort: „Frag nicht. Was sie mit uns getan haben, ist unaussprechlich!“

Mein Großvater wurde von Auschwitz aus in mehrere Arbeitslager deportiert. Er musste in Bergen-Belsen, in Dachau und in Mauthausen schwer arbeiten, fast ohne Essen auskommen und ohne warme Kleidung. Vor Hunger musste mein Opa sich von Abfällen, die er heimlich unter Lebensgefahr aus Mülleimern herausgeholt hatte, ernähren. Manchmal war es auch nur ein Stück Seife, das er zum Essen hatte. Er erzählte mir auch davon, dass er keine Schuhe hatte, sodass er sich selbst aus Holz und verrosteten Nägeln etwas für die nackten Füße hergestellt hatte.

Als er schon fast zu Tode gehungert war und nicht mehr für die Arbeitslager zu gebrauchen war, wurde mein Opa zurück nach Auschwitz deportiert, um dort im Vernichtungslager getötet zu werden. Er erkrankte an Typhus und wurde nicht vergast. Stattdessen warf man ihn halbtot auf einen Leichenberg, weil man davon ausging, dass er sowieso nicht mehr lange zu leben habe und das Vergasen eine Verschwendung gewesen wäre. Das war das große Glück meines Großvaters.

Am nächsten Tag wurde mein Opa in Auschwitz befreit. Die Alliierten-Soldaten fanden ihn per Zufall auf dem Leichenberg, denn sie bemerkten, dass er noch atmete. Er lag im Koma und wurde in ein Lazarett gebracht. Da war er fast 18 Jahre alt.

Nachdem er mehrere Monate im Krankenhaus verbracht hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause. Er wollte seine Mischpoche finden, denn auch vom Vater war er getrennt worden.

Gemeinsam mit anderen, die er aus seiner Heimatstadt wiedergetroffen hatte, ging er nach Solotwino zurück. Die Reise war sehr schwierig, weil er immer noch krank war, doch aufgeben wollte er nicht. Er musste zurück zu seiner Familie. Bei seiner Ankunft stand ihr altes Haus leer. Es war kurz vor Schabbes und ein Nachbar teilte ihm mit, dass sein Bruder Mechel noch am Leben sei und bald kommen werde. Mein Opa wollte ihm entgegengehen und traf ihn auf dem Weg. Er fragte seinen Bruder, wohin er gehe. Und dieser gab zur Antwort, dass er sich beeilen müsse, Schihe sei nach Hause gekommen. Der eigene Bruder, Mechel, der Einzige aus der Familie, der überlebt hatte, konnte ihn nicht erkennen. So sehr war mein Opa von den Qualen in den Konzentrationslagern verändert worden.

Mein Opa blieb auch später noch im selben Haus und gründete dort seine Familie. Er baute für die Familie ein zweites, größeres Haus auf dem Grundstück, wo sie bis zur Auswanderung blieben.

Heute lebt nur noch meine Oma in Frankfurt, da mein Opa 2014 leider von uns gegangen ist. Wir sind fünf Enkelkinder, die alle in Frankfurt geboren wurden. Von der Familie lebt heute keiner mehr in der Stadt Solotwino.

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Efraim Leibowitz

Ich möchte euch die Geschichte meines Urgroßvaters Efraim Leibovitz, der ein Überlebender von Auschwitz war, berichten. Leider hatte ich nicht das Glück ihn persönlich kennenzulernen, doch er war so prägend in dem Leben meiner Mutter und meiner Oma, dass ich vieles erzählt bekommen habe.

Efraim Leibovitz wurde am 24. September 1926 in Swalawa, in der ehemaligen Slowakei, geboren. Er war eines von sechs Geschwistern, von denen nur er und seine Zwillingsschwester, die heute noch in Israel lebt, den Holocaust überlebt hatten.

Er verbrachte eine schöne Kindheit in einem religiösen, herzlichen Zuhause, bis er im Juli 1941 mit seiner Familie nach Polen transportiert wurde. Dabei kam eine seiner Schwestern durch den anstrengenden Fußmarsch um. Er wurde in Stanislawow mit seiner Mutter inhaftiert. Sein Vater wurde vor dem Gefängnis, vor den Augen seiner Familie, erschossen.

Nach einmonatiger Haft wurden mein Urgroßvater Efraim und seine Mutter freigelassen, sie kamen in das Ghetto Stanislawow. Die Juden mussten Zwangsarbeit leisten. Im Frühling 1942 wurde mein Urgroßvater mit 16 Jahren in das Arbeitslager Lemberg umgesiedelt, wo er schwere Arbeit im Wald leisten musste. Die 300 Männer, die gemeinsam mit meinem Urgroßvater eingeteilt waren, mussten in Ställen übernachten und wurden von deutschen Soldaten scharf bewacht. Ende 1942 gelang ihm die Flucht über Lemberg bis nach Ungarn. Dort wurde er allerdings wieder festgenommen und im März 1943 in das Gefängnis „Garany“ eingeliefert. In diesem Gefängnis wurden circa 500 Häftlinge untergebracht, denen allen zunächst die Flucht von Polen nach Ungarn gelungen war. Im Gefängnis führten die Ungarn selbst Aufsicht. Mein Urgroßvater blieb bis Frühling 1944 inhaftiert und wurde von dort aus nach Budapest gebracht. Der Sammelpunkt für den Abtransport der Juden in Budapest befand sich in einer Ziegelfabrik. Täglich wurden die Juden von dort aus in das Todeslager Auschwitz-Birkenau überführt.

Mein Urgroßvater erhielt dort die Tätowierungsnummer „B-7549“. Diese Nummer befindet sich auch heute noch im Museum in Auschwitz. Anhand der Nummer können Geschichten eindeutig Personen zugeordnet werden. Im Konzentrationslager wurde mein Urgroßvater unter unwürdigsten Zuständen in Sträflingsbekleidung gesteckt und der erniedrigenden Arbeit des Reinigens der Toiletten zugeteilt. Die Nazis selbst führten hierfür den Begriff „Scheißkommando“ ein. Mein Urgroßvater war im sogenannten Lager A Block 8 untergebracht. Es ist bemerkenswert, dass unter diesen grausamen Umständen Freundschaften geschlossen wurden, die ein Leben lang anhielten. Das unmenschliche, widerwertige Verhalten der Nazis konnte die meisten Juden, so auch meinen Urgroßvater, nicht davon abhalten, das Wenige, was sie hatten, ob Essen oder einen Schlafplatz, gemeinschaftlich und großherzig miteinander zu teilen.

Es gibt den Spruch, dass jeder Deutsche seinen „Juden“ hatte und diese Tatsache rettete Efraim Leibovitz vermutlich sein Leben. Als einer der Kommandanten versetzt wurde, entschied er, dass mein Urgroßvater ihm zu folgen habe. Es blieb meinem Urgroßvater ein Leben lang ein Rätsel, warum gerade er von dem SS-Soldaten ausgewählt worden war, doch er war davon überzeugt, dass ihn dies vor den Gaskammern in Auschwitz gerettet hatte.

In Sträflingskleidung wurde er im November 1944 in das Konzentrationslager Kaufering überführt. Anders als in den Baracken von Auschwitz waren die Juden hier in unterirdischen Bunkern untergebracht. Er arbeitete bei der Firma „Tagmann“, die Zement herstellte und die Juden schwere Säcke schleppen ließ. In Kaufering wurde er von der Zementfabrik in eine Munitionsfabrik versetzt. Ende April 1945 wurde Efraim Leibovitz, in einer der letzten Aktionen der SS, nach Buchberg transportiert. Am 2. Mai 1945 wurden die Häftlinge aus dem Lager Buchberg bei einem Fußmarsch Richtung Bad Tölz von der Schreckensherrschaft der Nazis befreit. Nach der Befreiung blieb er bis 1946 in München und bis Mai 1947 in Ansbach. Es gab dort den sogenannten Kibbuz „Imor“, in dem sich viele Holocaust-Überlebende sammelten.

Mit dem bekannten Schiff „Exodus“ traf mein Urgroßvater im Jahr 1948 in Israel ein. Es gibt von diesem Moment der Ankunft ein Bild in der aktuellen Ausstellung von Yad Vashem, dem größten Holocaust-Gedenkmuseum der Welt. Dieses Bild war titellos, bis unsere Familie bei einem Ausflug vor einem Jahr das Bild entdeckte. Dies war bereits sein zweiter Versuch nach Palästina auszuwandern. Bei seinem ersten Versuch wurde dem Schiff „Exodus“ mit vielen Kindern an Bord die Landung in Palästina durch die Engländer verweigert. Der gesamte Kindertransport wurde nach etwa drei Monaten mit drei englischen Schiffen nach Lübeck zurückgeschickt.

Das ITS-Archiv in Bad Arolsen hat mir eine Kopie der kompletten Akte mit den eidesstaatlichen Aussagen meines Urgroßvaters überlassen. Hierin befindet sich, außer seiner Aussage und der Bestätigung seiner Tätowierungsnummer, auch sein Such-Antrag beim Roten Kreuz und dem internationalen Suchdienst, über den er Jahre später in Israel seine Zwillingsschwester Bracha wiedergefunden hatte. Man kann sich die Emotionen bei deren ersten Treffen kaum vorstellen.

In der Akte sind auch die Prozessunterlagen ab 1970 enthalten. Es ist unfassbar, wie schwer die deutsche Justiz es den Juden gemacht hat an ihre Entschädigungen zu kommen. Es gibt eigens hierfür eingerichtete sogenannte Entschädigungskammern im Landgericht, welche in einer absurden und unverschämten Weise die Prozesse unnötig in die Länge zogen, um Entschädigungen nicht auszahlen zu müssen.

Es ist bewundernswert, wie sich die Holocaust-Überlebenden in das normale Leben zurückgekämpft haben. 1950 lernte mein Urgroßvater seine Frau Martha in Israel kennen. Die Ehe hielt bis in den Tod. In Israel bekamen sie ihre beiden Kinder Joschua und Dvora, meine Oma.

1977 siedelte mein Urgroßvater nach Deutschland über. Er führte das Café „Holzhausen“, welches sich auf der Eckenheimer Landstraße gegenüber der deutschen Bibliothek befindet, 25 Jahre lang. Meine Großeltern, Dvora und Herrmann, haben sich dort kennengelernt. Es war jahrzehntelang ein Treffpunkt für viele Gemeindemitglieder.

Zum Schluss seiner eidesstattlichen Erklärung schreibt mein Ur-Großvater wörtlich: „Da fast meine ganze Familie vor meinen Augen ermordet wurde, kann ich mich heute schwer an genaue Daten erinnern, denn das Bild dieses Grauens steigt mir beim Erinnern immer wieder auf.“ Mit diesem Satz meines Urgroßvaters möchte ich meinen Vortrag beenden. Efraim Leibovitz starb im November 1996 in Frankfurt am Main.